"Trauer bleibt kein Tabu"
Ein ausgiebiger Spaziergang über den Friedhof, ein kreativer Besuch beim Bestatter und eine ruhige Minute im Erzählkino: In der evangelischen Kita „Senfkorn“ in Castrop-Rauxel bietet das Team den Vorschulkindern jedes Jahr ein Projekt zu den Themen Tod und Trauer an. „Kinder gehen meistens ganz unbeschwert mit diesen Themen um“, sagt Erzieherin Sonja Knauf und macht Eltern Mut, mit ihren Kindern ins Gespräch zu kommen.
Davis (6) bewegt vorsichtig das Schneckenhaus in seinen kleinen Händen. Er dreht und wendet es, untersucht die Musterung, klopft vorsichtig auf die dünne Schale und stellt dann fest: „Schnecki ist tot.“ Dann gibt er das Schneckenhaus weiter, schließlich will sein Freund neben ihm im Morgenkreis es auch noch unter die Lupe nehmen. Die Jungen und Mädchen in der evangelischen Kita „Senfkorn“ in Castrop-Rauxel (Nordrhein-Westfalen) begutachten nach und nach das kleine Schneckenhaus, bis es wieder bei Erzieherin Sonja Knauf angekommen ist. „Was können wir jetzt mit Schnecki machen?“, fragt sie. Und Davis weiß einen Rat: „Wir könnten sie vergraben.“
Auf das stille Lächeln auf Knaufs Gesicht folgt ein Nicken. Was sie dafür brauchen könnten, fragt sie dann. Und schon zaubert sie aus ihrer Kiste einige Ideen hervor: Steine, Tücher, einen kleinen Grabstein, Blumen, Herzen und eine Engelfigur. Die Kinder packen mit an: „Schnecki“ wird in eine kleine Schachtel gelegt und die Jungen und Mädchen bauen, schmücken und verzieren, bis sie schließlich zufrieden sind mit dem bunten Grab.
Anschließend schlägt Knauf vor: „Wir könnten zum Abschied doch etwas sagen.“ Schließlich sei ein richtiger Abschied wichtig. Die Kinder blicken erst etwas ratlos, dann ergreift Davis das Wort: „Bis dann, Schnecki“, sagt er, „du gehst jetzt in den Himmel.“ Da besteht für den Sechsjährigen kein Zweifel. Er hört zu, wie ein Sitznachbar erzählt, dass dort auch schon sein Opa ist. Und lauscht, als ein Mädchen berichtet, dass in ihrer Familie alle leben. Dann faltet Davis fröhlich die Hände, als Knauf vorschlägt, vielleicht noch zu beten. Die Verse, die die Kinder jeden Morgen in der Begrüßungsrunde sprechen, passen zwar nicht in den Beerdigungskontext. Und trotzdem scheint das Gebet zu einem Gebet für „Schnecki“ zu werden. „Ich telefoniere gerne mit Gott“, erklärt Davis noch. Und dann freut er sich, als Knauf die Kinder zu einem Bewegungslied einlädt.
„Viele Eltern wollen ihre Kinder vor den Themen Tod, Trauer und Leid beschützen“, sagt Knauf, die selbst Mutter ist. Aber sie weiß auch: Früher oder später werden Kinder ohnehin mit diesen Themen konfrontiert. „Das kann passieren, wenn ein älterer Mensch in der Familie stirbt – oder auch, wenn die Kinder sehen, dass ein Tier überfahren wurde“, sagt die Erzieherin. „Wir können sie also nicht vor diesen Themen beschützen.“
Was also tun? Die evangelische Kita „Senfkorn“ in Castrop-Rauxel hat für sich eine Antwort gefunden: Jedes Jahr im Herbst lädt ein Team um Knauf die Vorschulkinder zu einem besonderen Projekt ein. Während einer kleinen Veranstaltungsreihe nimmt sie mit den Kindern das Thema Tod und Sterben in den Blick. Unterstützung bekommt sie dabei von Sven Teschner, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Castrop-Rauxel-Nord. „Wir haben ein Konzept entworfen, das uns hilft, diese Themen aus der Tabuzone zu holen“, sagt der Theologe. Es ist ein aufwendiges Projekt, das Erzieherinnen und Pfarrer gemeinsam verwirklichen. Und sie tun es aus Überzeugung.
„Ich begegne in meinem Berufsalltag häufig den Fragen von Eltern, ob sie ihre Kinder mitnehmen sollen zu einer Beerdigung“, erzählt Teschner. Er macht den Müttern und Vätern dann Mut: Wenn Kinder mitgehen wollen, dann sollten Erwachsene sie nicht davon abhalten. „Allerdings empfehle ich, jemanden als Begleitung für das Kind mitzunehmen, denn meistens sind die Erwachsenen mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt“, berichtet der Pfarrer von seinen Erfahrungen. Dann sei es gut, wenn die Kinder wissen, an wen sie ihre Fragen stellen können. Denn: „Mit fünf Jahren ist den meisten Kindern klar, dass das Leben endlich ist“, sagt Teschner, „sie beziehen das nicht auf sich, aber sie machen sich Gedanken.“
Um Kinder mit ihren Fragen nicht alleine zu lassen und um ihnen Raum für Entdeckungen zu geben, stellen sich Erzieherinnen und Pfarrer deshalb mitten im Kindergartenalltag mit den Kindern den großen Themen rund um Leben und Sterben. „Der erste Schritt ist allerdings immer das Gespräch mit den Eltern“, sagt Knauf. Deswegen gibt es einen Elternabend. Als der Kindergarten vor sieben Jahren den Themenschwerpunkt in das Programm aufnahm, gab es Bedenken. Einzelne Eltern hätten nicht gewollt, dass ihre Kinder am Projekt teilnehmen. „Das haben wir natürlich berücksichtigt“, sagt Knauf. Bis heute haben Eltern die Wahl. Allerdings würde die Veranstaltungsreihe inzwischen eher von den Eltern eingefordert. „Wir haben in den vergangenen Jahren auch wirklich gute Erfahrungen gemacht“, betont Knauf.Nachdem also die Eltern informiert und vorbereitet wurden, startet das Projekt in der Kita – mit der Begegnung im Morgenkreis, mit Schnecki, Bastelaktionen und einem Bilderbuchkino. Dann blicken Erzieherin und Kinder gemeinsam auf die eindrucksvollen Bilder des Buches „Die besten Beerdigungen der Welt“ und freuen sich, wenn Ester, Putte und die Ich- Erzählerin ein kleines Beerdigungsinstitut gründen, um all die Hummeln und Kaninchen zu bestatten, die sie am Wegesrand finden. „Ich erzähle das ganz sachlich“, sagt Knauf, „ich will keine Emotionen schüren, sondern mich einfach mit den Kindern diesen Themen nähern.“ Sie nehmen Todesanzeigen in Tageszeitungen unter die Lupe, machen sich auf die Suche nach Symbolen und rätseln über die Bedeutung von Engeln, gefalteten Händen oder Kreuzen.
Anschließend stehen gleich zwei große Ausflüge für die Jungen und Mädchen auf dem Programm: Erst geht es zum örtlichen Bestatter. „Dort haben die Kinder meistens vor allem technische Fragen“, hat Pfarrer Teschner festgestellt. Wie funktioniert so ein Sarg? Kommt der mit in die Erde? Und sind die Kissen auch weich genug? Alle Fragen sind erlaubt. Und das Team des Kindergartens freut sich, wenn die Jungen und Mädchen diesen Raum nutzen. „Die Kinder nehmen diesem Thema selbst die Schwere“, hat Knauf bei diesen Besuchen erfahren. Das erleichtere oft auch den Erwachsenen den Zugang.
Und das zeigt sich dann auch in der Gestaltung eines großen Holzsargs, die beim Termin beim Bestatter dazu gehört. Bunt, mit viel Glitzer, Federn und Kugeln schmücken die Kinder den Sarg. „Da liegt viel Hoffnung in den Farben“, sagt Knauf. Und wenn das fertige Exemplar eine Woche lang im Schaufenster des Bestatters ausgestellt wird, besuchen die Kinder mit Eltern und Großeltern gut gelaunt ihr Kunstwerk.
Genauso fröhlich fällt für gewöhnlich der Spaziergang auf dem Friedhof aus. Dann sucht Pfarrer Teschner mit den Kindern nach Symbolen und verschiedenen Be stattungsarten. „Manchmal sehe ich, wie Erwachsene komisch gucken, wenn sie die Kinder auf dem Friedhof sehen“, erzählt Knauf. „Aber wenn sie den Pfarrer entdecken, entspannen sie sich meistens“, ergänzt sie lachend.
Mit einer Andacht beenden die Erzieherinnen und der Pfarrer die Reihe. „Bis zum Ende ist mir wichtig, den Kindern die Antworten zu überlassen“, sagt Knauf. Sie will so wenig wie möglich vorgeben – und doch genug Platz für die Hoffnung des christlichen Glaubens lassen und genug Geländer bieten, um die Kinder zu begleiten. „Wir bieten natürlich die Vorstellungen und Bilder unseres eigenen christlichen Glaubens an.“
Aber auch Pfarrer Teschner hat die Erfahrung gemacht, dass die Kinder auf viele ihrer Fragen schon eigene Antworten gefunden haben und diese auch formulieren. Was die Kreuze auf den Grabsteinen zu suchen haben? „Dann weiß Jesus, dass er weiter auf den Menschen aufpassen soll. Jetzt halt im Himmel“, hat ein Kind erklärt. Und als in den vergangenen sieben Jahren dann doch mal ein Kind während des Projekts weinen musste, weil gerade erst seine Oma gestorben war, da tauchten im Morgenkreis direkt viele kleine, tröstende Arme auf. „Die Kinder haben sich gegenseitig Mut gemacht, das war sehr berührend“, schildert Knauf.
Die Veranstaltungsreihe fordert also eher den Erwachsenen mehr Mut ab als den Kindern. Das jedenfalls haben die Erzieherinnen in der Kita „Senfkorn“ festgestellt. „Erzieherinnen dürfen sich außerdem nicht selbst in einer akuten Trauersituation befinden“, weiß Pfarrer Teschner. Und: „Sie müssen Mut mitbringen.“
Das Team in der Kita „Senfkorn“ in Castrop- Rauxel hat sich darüber hinaus intensiv vorbereitet, bevor es das Konzept damals zum ersten Mal im Kita-Alltag umgesetzt hat. Die Erzieherinnen haben gemeinsam Bilderbücher gewälzt, haben sich während einer Langzeitfortbildung auch dem Themenkomplex „Tod und Trauer“ gewidmet. Und schließlich einen Ausflug in das Museum für Sepulkralkultur in Kassel unternommen, um sich dem Thema kulturgeschichtlich zu nähern. Dort wurde das Kita-Team auch mit kindgerechtem Material unterstützt.
„Wir glauben, dass wir Kinder mit diesem Projekt auch auf Situationen vorbereiten können, in denen ihnen Tod und Trauer begegnen“, sagt Teschner. Wenn die Themen schon früh aus der Tabuzone geholt würden, wenn Kinder ihre Fragen stellen und auch ihrer Hoffnung Ausdruck geben können, „dann ist es ihnen möglich, sich darauf in Krisensituationen zu berufen“. Weder Trauer noch Leid würden so weggezaubert, ergänzt er. „Aber wir ermöglichen den Kindern einen Umgang mit der Trauer.“
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- Das evangelische Elternmagazin
Text: Theresa Demski
Fotos: Markus J. Feger
Foto Sarg - Archiv